Göttinger Tageblatt

14.04.2012 - 60er Jahre: Aufruhr am FKG

Lehrer schießt auf sozialistische „Lausbuben“
Absicht oder Unfall? 20-Jähriger angeschossen / Verfahren um FKG-Lehrkraft wird Politikum

Zeitreise in die späten 60er Jahre: Nicht nur Studenten, auch Schüler gehen auf die Barrikaden. So etwa von Weihnachten 1969 bis zum Sommer 1970, nachdem die Schüsse eines Lehrers des Felix-Klein-Gymnasiums auf einen ehemaligen Schüler und das gerichtliche Nachspiel dieses Vorfalls zum Politikum wurden. Es ist die Zeit der Außerparlamentarischen Opposition (APO), des Protests gegen Nationalismus, Verdrängung der Verbrechen des Naziregimes, Staatsgewalt und entmündigende Notstandsgesetze. Der 59 Jahre alte Lehrer Gerhard S., dessen Karriere bei der SS und an deren Kaderschmieden begonnen haben soll, ist jetzt, so sagt er laut Tageblatt später vor Gericht, „entnazifiziert“ und Lehrer unter anderem für Latein am Göttinger FKG. Viele Schüler stört S.'s martialischer Wortschatz. Der Lehrer, so die Göttinger Presse, tendiere zu „nationalistischen und kriegsverherrlichenden Zitaten“. Der ehemalige FKG-Schüler und Sozialdemokrat Klaus Wettig erinnert sich in seinem Buch „Spurensuche und Fundstücke“ an Lektionen des Vertretungslehrers, die in Vergleichen mit dem Russlandfeldzug gipfelten: „Wir übersetzten Cäsars ,De bello gallico?, der S. zu überraschenden Parallelen inspirierte.“ Die Schülergeneration der kritischen 68er Jahre reagiert empört. S. gerät in den Mittelpunkt politisch motivierter Aktionen. Bereits Wochen vor dem Schuss habe der Göttinger wegen Hausfriedensbruches und Bedrohung Strafantrag gegen Unbekannt bei der Polizei gestellt, berichtete die Zeitschrift Zeit. Ungebetene Gäste demolierten Scheiben, bewarfen sein Dach und hinterließen an seiner Tür das Wort „SS Schwein“. In der Nacht des 25. Dezember 1969 endet eine „rote Weihnachtsfeier“ damit, dass laut Tageblatt-Bericht „vier Lausbuben des Sozialistischen Schülerbundes“, darunter zwei ehemalige FKG-Schüler, aufbrechen, um ehemalige Lehrer zu besuchen. Auch Familie S. wird aufgeweckt, weil Unbekannte vor ihrem Haus randalieren. Der Lehrer, der sich offenbar unter dem Eindruck vorheriger nächtlicher Besuche ein Schrotgewehr ausgeliehen hat, steht mit der Waffe am Fenster, als ein Schuss fällt und rund 40 Schrotkugeln in den Arm des 20 Jahre alten Schülers Detlef B. jagt. „Gezielt erschossen“ oder „Unfall, ausgelöst durch einen Schneeball an den Kopf des Lehrers“ sind in den folgenden Wochen die gegensätzlichen Versionen, die in der Stadt und im ganzen Land eine politische Diskussion auslösen. Schüler protestierten und streiken. Angeprangert wird nicht nur das Geschehen in der Weihnachtsnacht, sondern das System: „S. ist kein Einzelfall, S. gibt es überall“, skandieren die jungen Demonstranten. Eltern fordern Aufklärung. Die Schulleitung versucht, zu verharmlosen. Erst spät wird der Lehrer vom Kultusministerium seines Dienstes vorläufig enthoben. Die Staatsanwaltschaft ermittelt. Zahlreiche Medien berichteten. Und schließlich kommt es zum Prozess. Auch Politprominenz hat sich eingeschaltet. Der linke Liedermacher Franz Josef Degenhardt steht als Anwalt den vier der Ruhestörung beschuldigten jungen Männern zur Seite. S. wird freigesprochen, das Gericht billigt ihm zu, nach der Schneeballattacke reflexartig gehandelt zu haben. Das Verfahren gegen die Ruhestörer wird eingestellt.

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