Bladel-Austausch in den Niederlanden

Mit Comenius nach Bladel

Bladel? Wo liegt denn das? Oder: Wo soll das denn sein? Diese und ähnliche Fragen mussten sich die Comenius-Reisenden in den vergangenen Tagen mehrfach anhören, wenn sie von ihren Plänen berichteten. Denn das Ziel der Reisegruppe, die wir nunmehr nur noch als Comenian Harmonists – Wortfindung von Herrn Druck (Danke, Rüdiger!) - bezeichnen wollen, erfreut sich nicht gerade der Berühmtheit. Bladel ist ein Örtchen in den Niederlanden, genauer gesagt in Noord Brabant, unweit der Stadt Eindhoven, die für die Philips Werke und den dazugehörigen Fußballclub PSV Eindhoven bekannt ist, wo einst Ronaldo die Fußballstiefel schnürte.
Wir fahren also aufs Land, die Großstädte berühren wir nur oder lassen sie auf der Reise links oder rechts liegen: In Kassel, Frankfurt bevölkern wir kurz die Bahnsteige, den Kölner Dom, sehen wir im Vorüberfahren und von Utrecht oder Amsterdam lesen wir nur auf den Anzeigetafeln. Mit der Überquerung der Grenze bei Venlo betreten vier von den neun Comenian Harmonists Neuland. Sie waren nie zuvor in den Niederlanden und sind sehr gespannt auf das kleine Nachbarland im Westen. Was stellen sich die FKG-Schüler/innen unter den Niederlanden vor? Fußball, Käse, Kiffen, Lakritze, Tomaten, Tulpen. Das sind in alphabetischer Reihenfolge die prompt geäußerten Klischees. Christian kennt immerhin den Maler Vincent van Gogh und Nora weiß, wie die niederländische Königin heißt: Beatrix. Dass der neue Bundespräsident Gauck vor wenigen Tagen in Breda als erster deutscher Politiker eine vielbeachtete Rede gehalten hat, ist ihnen entgangen. Das gibt Anlass, gemeinsam über die deutsch-niederländische Geschichte und den am 5. Mai begangenen „Bevrijdingsdag" zu sprechen, an dem im Jahr 1944 die Alliierten die Besatzung der südlichen Niederlande beendeten.
In Eindhoven verlassen wir nach fünf Stunden Fahrt den Zug. Den Rest der Strecke bewältigen wir im Auto. W ir durchfahren eine sattgrüne Weidenlandschaft, durchzogen von endlos langen Pappelreihen und Kanälen, deren stilles Wasser blau in der Sonne glitzert. Am Horizont reckt ein Kirchturm sich in die Luft. „Dit is Bladel", erläutert unser Fahrer. Und schon sind wir im Ort. Auf dem Vorplatz des Pius-X-College nehmen uns die niederländischen Familien mit großem Hallo in Empfang. Die Partnerschüler/innen kennen sich schon aus Göttingen. In Nullkommanix hat sich der Schulhof geleert. Morgen früh werden wir uns hier wieder treffen. Dann werden die Comenian Harmonists um einige Familienerfahrungen reicher sein. Und um genau die werden sich die Projekttage drehen: „Familienstrukturen und Familienleben im europäischen Vergleich – unter Berücksichtigung der Auswirkungen von Migration", lautet unser gemeinsames Thema.

Der erste Tag in Bladel

Am Kreisverkehr, der die Starßen aus dem Umland nach Bladel hineinführt herrscht gegen acht Uhr heute morgen ein dichtes Verkehrsaufkommen. Das aber wird nicht von Autos verursacht. Fahrradfahrer über Fahrradfahrer drängeln sich auf der rot eingefärbten Seitenspur der Straße. Die meisten der radler sind junge Leute, die Schultaschen auf dem Gepäckträger transportieren. Unter sie haben sich heute auch Fremdlinge gemischt, nämlich die Comenian Harmonists. Als täten sie nie irgend etwas anderes haben sie sich unter das Radfahrervölkchen gemischt und streben mit wehenden Haaren dem Pius-X-College zu. Dort sehen wir uns alle wieder, werden freundlich begrüßt vom niederländischen Schulleiter, der bereits den Blick vorauswirft auf den 13. Juni. Richtig, da treffen Deutschland und die Niederlande bei der EM aufeinander. Aber Fußballkonkurrenz spielt heute keine Rolle. Nach der kurzen Einführung haben sich rasch internationale Arbeitsgruppen gebildet. Sie machen sich daran für das schulinterne Fernsehen eine Comenius-Produktion zu gestalten. Die Stunden verfliegen bei der gemeinsamen Projektarbeit.
Interessant sind die ersten Eindrücke der für unsere Verhältnisse riesigen Schule. 2400 Schüler/innen werden von über 200 Lehrkräften unterrichtet. „Viel offener ist hier alles“, bemerkt Lara mit Blick darauf, dass alle Klassen von den Fluren aus durch Fenster einsehbar sind. „Sehr groß, aber sehr verwinkelt“, ergänzt Lucina, während Nora beklagt, dass „es keinen gemütlichen Schulhof gibt.“
Nach dem Mittagessen verlagern wir unsere Aktivität wieder auf den Fahrradsattel. Tandemfahren ist angesagt. Eine Superidee, denn Tandemfahren verlangt haargenau abgestimmte Zusammenarbeit. Nach einer Proberunde auf dem Schulhof radeln wir gemeinsam los. Aber der Wettergott meint es nicht gut mit uns. Wir haben kaum dem Schulhof den Rücken gekehrt, entleeren sich die Wolken, die zuvor düster drohend am Himmel hingen, in einem einzigen Wasserschwall. Klatschnass geregnet, überlegen wir kurz, die Tour abzubrechen. Aber dann trotzen wir der Naturgewalt. Und wir werden für unseren Mut belohnt.
Der Himmel reißt auf. Die Sonne trocknet im Nu unsere durchnässten Jacken und als wir die belgische Grenze überqueren, ist es so, als hätte es nie geregnet. Ein altes Kloster in Belgien ist unser erstes Ziel. Von dort führt uns die Strampelei zu einer alten niederländischen Käserei, wo uns die Kunst des Käsemachens erläutert wird.
Nach der Rückkehr auf den Schulhof haben wir nur eine kurze Pause für das Abendessen. Um acht Uhr ist eine niederländisch-finnisch-deutsche Karaokeveranstaltung angesagt. Die ersten Sangesversuche fallen etwas zaghaft aus. Aber dann steigert sich der Mut und die Darbietungen werden immer kraftvoller. Meike, Paula, Lucina, Nora und Lara steigern sich zu wahrer Meisterleistung. Es gibt noch etliche Liedwünsche. Aber Eric van der Ven, der Koordinator des Pius-X-College bläst mit einer von allen mitgesungenen Version von „Let it be“ zum Abschied. Morgen müssen wir früh rau. Es geht nach Amsterdam.

2. Tag: Auf nach Amsterdam

„Nederland is een regenachtig land.", lautet einer der ersten Lehrbuchsätze in Langenscheidts „Niederländisch in 30 Stunden". Die Niederlande sind ein regnerisches Land, heißt der Satz auf Deutsch und das Wetter legt sich heute nach Kräften dafür ins Zeug, diese Feststellung zu beweise. Stetig tröpfelt der Regen gegen die Scheiben des Reisebusses, der uns nach Amsterdam bringt. Die Landschaft zieht an uns in trübem Licht vorbei, der Lek und der Waal die beiden Rheinfortsetzungen ziehen sich wie breite graue Striche bis zum Horizont dahin. Die Spitze der Utrechter Kathedrale verschindet in den tiefhängenden Wolken.
Am Bahnhof, dem Centraal Station, erwartet uns die Prins Hendrik, das Rundfahrtboot, zu einer Fahrt durch den Grachtengürtel der holländischen Metropole. Wir haben kaum Platz genommen, beweist der Blick nach draußen die andere Wetterweisheit: „In Nederland is het weer steeds wisselvallig", also wechselhaft. Die Wolken reißen auf und die Sonne strahlt aufs Bootdach, als wir ablegen. Vom Wasser aus gesehen, wirken die prächtigen Herrenhäuser mit ihren reich verzierten Giebeln noch mächtiger und eindrucksvoller als von der Straße. Das ist ein malerischer Anblick, den der sich anschließende Spaziergang vertieft. Vorbei an dem vom Architekten Berlage entworfenen Börsengebäude geht es zum königlichen Palast und dann hinein in das Gewirr der schmalen verwinkelten Grachten, denen Amsterdam das Attribut „Venedig des Nordens" verdankt.
Das Ziel unseres Spazierganges ist das Rijksmuseum, die Schatzkammer des historischen Amsterdam. Besonders die Künstler des 17. Jahrhunderts, des sogenannten Goldenen Jahrhunderts, Rembrandt, Vermeer, Frans Hals oder Jan Steen sind hier vertreten. Auf zahlreichen ihrer Gemälde lässt sich familiäres Leben früherer Jahrhunderte bestens studieren. So wie in der Weihnachtsszene von Jan Steen. Bitter weint hier der Junge, dem der Nikolaus nur eine Rute gebracht hat, während die Familie ringsum schadenfroh feixt und die Tochter des Hauses einen mit Geschenken überladenen Eimer in Empfang nehmen darf. Das Interieur, das auf vielen Bildern die Kulisse bildet, nehmen wir hernach in Augenschein. Museum van Loon heißt ein herrschaftliches Wohnhaus, in dem die Wohnbedingungen einer wohlsituierten Familie des 17. Jahrhunderts anschaulich werden. Aber, das darf nicht verschwiegen werden, um das behagliche Leben zu ermöglichen, musste sich eine zwanzigköpfige Dienerschaft unermüdlich abrackern – gegen einen Hungerlohn. Apropos Hunger, unseren verdienten Appetit befriedigen wir am Rembrandtplein, der letzten Station unseres Ausflugs. Das Abendessen schmeckt, um es auf Niederländisch zu sagen: Echt lekker! 

Der letzte Tag in Bladel

Gemeinsame Erfahrungen zu verarbeiten, gehört zu den Königsaufgaben von Schule im Allgemeinen und von Austauschfahrten im Besonderen. Heute erleben wir in Bladel eine für uns ungewohnte Form, dies zu tun. Wir benutzen das Medium der Fernsehreportage. Dieses Medium, so vertraut es uns aus dem Alltag auch sein mag, verlangt eine Basisqualität, die so einfach erscheint und doch so schwer zu beherrschen ist. „First of all: Be natural!", lautet die Ansage des Experten. Und das sein zu können, verlangt, so paradox es klingen mag, exakte Vorbereitung. Daran wird heute gefeilt. Die Austauschpartner/innen stellen Texte, Töne und Zeichen zusammen, überlegen sich eine Dramaturgie ihrer Darbietung und verfertigen ein Skript für ihren Eingangskommentar. Obwohl wegen des knappen Termins die Zeit drängt, bleiben die Gruppen erstaunlich entspannt. Vielleicht unterschätzen sie die Aufgabe. Reihum legen sie lehrreiche Auftritte hin. Wir wollen uns die Resultate am Abend beim gemeinsamen Essen anschauen. Dieses zuzubereiten wird den Nachmittag in Anspruch nehmen. Im Museum van Loon hatten wir erfahren, wie eine reiche Patrizierfamilie im Überfluss schwelgte, für den eine große Dienerschaft hart arbeitete. Der Diener Aufgabe war es auch, das Essen auf den Tisch zu bringen. In unserer internationalen Großfamilie ist dies anders. Hier schwingen alle Esser zuvor den Kochlöffel gemeinsam. Die Kochgruppen erhalten Rezepte und Zutaten und schon entsteht reger Betrieb in der Küche. Schälmesser blitzen auf, Mixer setzen sich in Bewegung, Töpfe und Teller klappern und Wasser rauscht. Vieles ist Handarbeit. Nora; Ad und Nando rollen Hackfleischbällchen für die Suppe. Meike, Lisa und Lex Thijs schälen Kartoffeln für den „Stampot". Lucina, Noach, Antti, Ricardo schälen und zerkleinern die Äpfel fürs Apfelmus. Thijs wälzt die Bratwürste in Mehl. Jonas, Paula, Eric, Pim bereite alles Nötige für den Birnenstreusel vor. Unterdessen rührt Lara Butter und Mehl für den Kuchen, den sie mit Lisa, Milla und Bert backen will. Selina, Linda Iris und Christian putzen Besteck und decken die Tische ein.
Das typisch niederländische Familienmenü sieht so aus:
Vorspeise: Gemüsesuppe mit Fleischeinlage
Hauptgang: Krosse Bratwurst auf Mousse aus Endivienkartoffeln mit gerösteten Speckscheibchen an Apfelschaum
Nachspeise: Birnenstreusel, Café mit Obstküchlein
Nach dem Essen sorgt die Präsentation der „Comenius-Sondersendung" für große Heiterkeit. Diese weicht der Rührung unter dem Reigen der Dankes- und Abschiedsworte. Lara, Lucina und Nora sprechen mit ihrem Dankeschön allen aus dem Herzen. Ausgestattet mit einem Abschiedsgeschenk, streicht sich manch einer in der Runde zufrieden über den Bauch. Aber ausruhen gilt nicht, denn der Heimweg wird „op de fiets" zurückgelegt. Heute zum letzten Mal, am Samstgamorgen wird es lauten: Tschüs, hei-hei, daag!

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